Heute hat sich der Zusammenhang zwischen Zucker und einem Risiko an Diabetes etabliert. Das war vor Jahrzehnten noch anders

War der 11. September ein Versicherungsbetrug? Stammen wir von Aliens ab? Beherrschen die Illuminaten die Musikindustrie? Der Youtube-Kanal von „Streng-Geheim“ (mehr als eine halbe Million Abonnenten) versammelt in seinen Videos einige der wildesten Verschwörungstheorien.

Im Frühjahr 2016 kam ein Video hinzu, das „Die Zucker-Verschwörung“ heißt. Darin wird behauptet, eine Lobby aus Agrarindustrie, Zuckerfabrikanten und Lebensmittelherstellern habe gemeinsam mit gekauften Wissenschaftlern jahrzehntelang verheimlicht, wie ungesund und gefährlich Zucker wirklich sei: Er verursache Diabetes, sei verantwortlich für die grassierende Fettleibigkeit und mache süchtig – „im gleichen Maße wie Kokain! “ Anders als die hanebüchenen Theorien über Illuminaten-Komplotte oder Alien-Gene könnte an der Geschichte von der Zucker-Verschwörung aber tatsächlich etwas dran sein. Das zumindest legen die Recherchen von Forschern und Journalisten nahe, die in diesem Jahr publik geworden sind.

Um die Verschwörung zu verstehen, muss man ein paar Jahrzehnte zurückgehen, mindestens bis 1980. In dem Jahr verabschiedete die US-Regierung zum ersten Mal in ihrer Geschichte Richtlinien für gesunde Ernährung. Es war höchste Zeit. In den drei Jahrzehnten seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der dadurch verursachten Todesfälle massiv zugenommen. Schuld daran, so gaben sich quasi alle einflussreichen Wissenschaftler überzeugt, waren gesättigte Fettsäuren und Cholesterin. Weniger Fleisch, Butter, Eier: Das war dann auch die klare Empfehlung der Ernährungsrichtlinie.

Und die Menschen hielten sich daran – sie tranken fettarme Milch und schmierten Margarine aufs Brot. Nur: Die Zahl der Adipösen und Diabetes-Kranken sank nicht, sie stieg sogar weiter. Den Verdacht, dass dafür Zucker – und nicht Fett – verantwortlich sein könnte, hatte ein Wissenschaftler bereits viel früher: Der britische Mediziner John Yudkin vertrat die These schon in den fünfziger und sechziger Jahren. In seinen Studien konnte er einen Zusammenhang zwischen übermäßigem Zuckerkonsum und dem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nachweisen.

Yudkin verwies darauf, dass der Mensch schon immer ein Fleischfresser war, Zucker aber erst seit etwa 300 Jahren zu unserer Ernährung gehört. 1972 wollte er mit dem Buch „Rein weiß und tödlich“ Alarm schlagen. Doch Yudkin fand kaum Gehör. Je mehr er den Zucker ins Visier nahm, desto seltener wurde er auf Konferenzen eingeladen, er durfte nicht mehr in Fachzeitschriften veröffentlichen, seine Kollegen schnitten ihn. Warum? Yudkins Außenseiterdasein war zum einen der Dynamik des Wissenschaftsbetriebs geschuldet. Die Fett-Theorie war herrschende Meinung, wer dagegen anschrieb, wurde nicht gehört. Zum anderen aber standen einige der Forscher, die den Briten öffentlich stigmatisierten, der Zucker-Industrie nahe.

Drei Ernährungswissenschaftler der Harvard-Universität erhielten etwa den heutigen Gegenwert von 50.000 Dollar vom wichtigsten Branchenverband der US-Zuckerhersteller, damit sie in ihrer Arbeit einen Zusammenhang zwischen Fett und Herz-Kreislauf-Erkrankungen herstellten. Noch bis 2014 finanzierte Coca-Cola Fachkonferenzen, auf denen die These vertreten wurde, nicht Zucker sei an der Adipositas-Epidemie schuld – sondern die mangelnde Bewegung der Dicken. Die verschwörerische Macht der Zucker-Lobby hatte da längst ihren Zenit überschritten, die Bestechungsversuche des Limonaden-Konzerns waren eher Rückzugsgefechte. Denn die Deutungsmacht in der Was-macht-uns-dick-und-krank-Debatte hatte sich wieder verschoben.

Heute gilt ein Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und etwa dem Risiko, an Diabetes zu erkranken, als etabliert. Gesättigte Fettsäuren und Cholesterin sind nicht entlastet, aber auch nicht mehr alleine schuld. Die Weltgesundheitsorganisation nahm 2002 in ihre Leitlinien die Empfehlung auf, dass Zucker nur zehn Prozent der täglichen Kalorienaufnahme ausmachen sollte. Der Durchschnittsdeutsche aber verbraucht etwa das Dreifache. Viel zu viel, sagen Experten.

Inzwischen finden sie mit ihren Warnungen wieder Gehör. Der Mediziner Robert Lustig ist einer der prominentesten Mahner, sein Vortrag „Zucker – die bittere Wahrheit“ wurde auf Youtube mehr als sieben Millionen Mal angesehen. Lustig und seine Kollegen fordern auch von der Politik, die Zucker-Gefahr einzudämmen – etwa durch eine Zucker-Steuer oder eine bessere Kennzeichnung von Inhaltsstoffen. 2010 scheiterte im EU-Parlament ein Plan, dafür eine radikal einfache Inhalte-Ampel einzuführen. Vorausgegangen war eine monatelange Lobbyschlacht zwischen Verbraucherschützern und Food-Industrie. Am Ende setzte sich „Big Sugar“ durch.

Dieser Text erschien zuerst im gedruckten Magazin von NGIN Food.

Bild: Will Heap / Getty Images